Back to Bayreuth

Seit Dienstag bin ich mal wieder im Lande, und es hat sich alles sofort wieder vertraut angefühlt, was nur zum Teil an der Kälte und dem ersten Graupelschauer dieses Winters liegt. Eigentlich wollte ich hier schon längst wieder etwas schreiben, aber es war einfach nicht möglich. Und heute muss ich mich leider auch kurz auf Werbung beschränken.

Morgen findet im Bechersaal der Jean-Paul-Slam statt: Sechs Autoren werden Auszüge aus Werken Jean Pauls vortragen und anschließend dem Dichter mit einem eigenen Text antworten. Unter anderem wird man die „Rede des toten Christus“ hören, Jean Paulsche Erziehungstipps und Ausführungen über die Geschlechtsenthaltsamkeit, „Das heimliche Klagelied der jetzigen Männer“ und die Geschichte der Belagerung der Reichsfestung Ziebingen samt toten Gänsen und einem Elefanten in der Kirche. Ich bin sehr gespannt, was meine Kollegen auf diesen Vorlagen aufbauend entwickelt haben und wie sie die Worte des alten Barden zum leben erwecken werden. Ich mach fei auch mit, ich hab mir die Reichsfestung Ziebeingen vorgenommen.

P1020340(So ausgestorben wünsche ich mir die Innenstadt während des Jean-Paul-Slams und des King-Sorella-Konzerts ;)

 

Am Samstag müssen dann alle in die Schokofabrik kommen! Die beste Band der Welt, wenn nicht ganz Oberfrankens, King Sorella gibt ein Konzert in großer Besetzung! Mit Bläsern und allen Schikanen! Vor dem Konzert lese ich ein paar Geschichten vor, hauptsächlich Sachen, die nach meiner Abreise aus Bayreuth entstanden sind, und dann kommt der Teil auf den ich mich am meisten freue und wegen dem ich verdammt aufgeregt bin: King Sorella und ich werden zwei oder drei Lieder zuammen spielen und singen. Gestern haben wir geprobt und es war der Hammer. Ich schreibe ja manchmal Lieder und stümpere sie auf meiner Gitarre vor mich hin. Die Songs mit Bandunterstützung zu spielen war unglaublich! 

Ich hoffe, wir sehen uns Freitag oder Samstag oder am besten Freitag und Samstag!

Kloß, Spinne und die Öko-Bot-Frösche

Im Bayreuther Tagebuch passiert zwar momentan nicht viel, dafür schreibe ich ab und zu auf meinem Heimatblog, dem Schnipselfriedhof weiter. Heute gibt es trotzdem hier ein Update, denn ich habe ein neues Video aus meiner Trickfilmserie „Kloß und Spinne“ gemacht. Die Serie spielt zwar eigentlich in Berlin, aber da es am Ende ein Musikvideo gibt, bei dem zahlreiche Bayreuther als Komparsen teilnehmen (auch wenn es sich nur um Frösche aus dem Ökologisch-Botanischen-Garten handelt), ist das wohl ein guter Anlass, es auch hier zu verlinken:

Hagen in der Todesrinne

Noch bevor heute nachmittag Castorfs Neuinszenierung der Götterdämmerung Premiere hat, ist meine Alternativ-Inszenierung wenn auch noch nicht im Festpielhaus, so doch im Nordbayerischen Kurier wenn auch nicht aufgeführt, so doch immerhin abgedruckt worden: Hagen in der Todesrinne – eine Götterdämmerung für die ganze Familie.

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(Verzweifelt versucht eine Armee von Wagner-Klonkriegern den Ring (schon leicht angeschlagen im Hintergrund zu erkennen) vor spielenden Kindern und Regisseuren zu schützen.)

Sodom und Gomorrha auf dem Staatsempfang

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(„Hallo?! Hallo! HIER bin ich!“)

 Die Auffahrt zum Hügel wollte ich mir nicht entgehen lassen. Promis Gucken ist eigentlich nicht so meins (unter außerdem sollte ich dazu beim Staatsempfang noch Gelegenheit haben), aber mich interessierte, was oben auf dem Hügel los ist, wenn die Limousinen vorfahren. Vorher war ich einen Kaffee trinken mit Freeman von King Sorella, der beschloss, mich zu begleiten. Wir müssen ein bisschen wie Tom Sawyer und Huckleberry Finn ausgesehen haben. Ich mit Hemd und Hütchen, Freeman mit Strubbelhaar und barfuß.

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(Finde den Fehler!)

 Prompt wurde Freeman aufgehalten und kontrolliert. Die Polizisten waren sehr höflich, einer bemühte sich sogar um ein bisschen Smalltalk, während ein anderer mit dem Ausweis verschwand. Schön wäre allerdings gewesen, wenn er uns für die Zeit, die wir auf die Rückgabe des Ausweises warteten in den Schatten gebeten hätten. Wir haben uns über die ganze Aktion etwas gewundert, denn Störer oder Attentäter wären sicher nicht barfuß bei so etwas unterwegs, aber was soll’s: Wer im Anzug zum Punkkonzert geht, wird ja auch scheel angeguckt. Zum Glück steht Freeman offenbar nicht auf irgendeiner Fahndungsliste und durfte im Folgenden unbehelligt über den Hügel barfüßeln.

Freeman war es auch, der mich auf dieses schöne Bild aufmerksam machte:

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(„Richard! Lass das!“)

 Leider war das ganze ziemlich langweilig, so dass wir uns bald wieder vom Acker machten.

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(„Bitte gehen Sie weiter, es gibt nichts zu sehen!“)

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(Während sich oben Politik und Prominenz feiern ließen, spielten sich nur ein paar hundert Meter entfernt herzzerreißende Szenen ab. Wo ist Siegfrieds Trauermarsch, wenn man ihn braucht? Wo waren Angela Merkel und Joachim Gauck, als es drauf ankam?)

Abends ging ich zum Staatsempfang, geschniegelt und gestriegelt. Außerdem vollgeregnet und in beschuhter Begleitung. Tja, was soll ich erzählen? Ich fand’s ganz nett. War mal was anderes. Der Wein war prima, und ich kann noch wochenlang all meine Bekannten nerven, in dem ich ihnen auf die Nase binde, mit wem ich so alles neulich auf ner Party war. Angela Merkel ist übrigens ziemlich früh gegangen, wahrscheinlich wollte sie noch ins Kanapee oder so, statt schon wieder mit den Kollegen rumzuhängen. So richtig hoch ging es nicht her, da schien es in den Vorjahren etwas wilder und zwangloser zugegangen zu sein, oder warum sah man sich genötigt, beim Staatsempfang zur Eröffnung der Bayreuther Festspiele diese Hinweise an bzw. in den Toiletten aufzuhängen?

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(Foto: kat)

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Hagen war’s!

Och, war doch gar nicht so  schlimm. Was da nur immer für ein Gewese gemacht wird, um die langen Wagner-Opern und die Wärme im Festspielhaus und die doofen Sitze und trallala! Das hält man schon mal aus. Zumal einem erst dort bewusst wird, wie gut dass alles ausbadowert ist: Ich habe mir zum Beispiel Sorgen gemacht, dass ich während der Aufführung auf  Toilette müsste – ich habe eine ziemliche Konfirmandenblase bzw. Pionierblase, wie es in diesem Fall richtig heißen muss, da die Bayreuther Festspiele ja „pure DDR“ sind, wie olle Castorf beteuert. Die Sorge war unbegründet, da der Saal extra so gut beheizt wird, dass sich das alles über Transpiration regelte.

Ich werde jetzt nicht erzählen, wie es war, dass darf ich ja auch gar nicht. Über die Generalproben darf man nicht berichten, man unterschreibt auf der Eintrittskarte, dass man sich jeder öffentlichen Kritik enthält. Das ist ja auch einzusehen, und ich bin ganz froh darüber, denn so kann ich darüber schreiben, wie es ganz und gar nicht war. Aber nicht jetzt, das kommt in einem späteren Post. Soviel sei verraten: Die Spannung wurde ein wenig dadurch genommen, dass ich schon vorher wusste, wer der Mörder ist …

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(Anlässlich meiner Rückkehr nach Bayreuth am Dienstag die gelben Säcke rauszustellen, war wirklich eine nette Idee ;-)

Jetzt etwas ganz anderes: Wie es scheint hat es niemand in Bayreuth bemerkt (alle, denen ich davon erzählte, kriegten große Augen und fragten: „Ach, echt?“), aber klammheimlich wurden sämtliche Jean-Paul-Fahnen abgehängt – da passt man mal drei Wochen nicht auf!

Dass niemand bemerkt hat, dass sie weg sind, kann eigentlich nur heißen, dass niemand bemerkt hat, dass sie da waren. Dabei waren sie doch nun wirklich nicht zu übersehen, dass müssen hunderte gewesen sein – wahrscheinlich soviele, dass man den Wald vor lauter Bäumen usw. Umfangreiche Beflaggung scheint kein effektives Mittel zu sein, etwas in den Köpfen der Menschen zu verankern. Das hat man ja auch an der DDR gesehen, wo zu allerlei Anlässen DDR- und Arbeiterfahnen in rauhen Mengen in den Wind gehängt wurden. Fahnenmangel herrschte selbst in den schlimmsten Jahren nie in der DDR und man musste sich auch nicht zehn Jahre im voraus anmelden, wenn man eine DDR-Fahne erwerben wollte. Genutzt hat es nichts, die DDR ist untergegangen und existiert nur noch – womit wir wieder bei Castorf wären – in Bayreuth.

„Bayreuth ist pure DDR“, konnte man jetzt allenthalben lesen, wobei Castorf gar nicht die Stadt, sondern nur das Festspielhaus bzw. die Produktionsbedingungen meinte. Inwieweit das zutreffend ist, kann ich nicht beurteilen. Wenn ich an meine Lehrzeit und das halbe Jahr, dass ich noch in der DDR gearbeitet habe, zurückdenke, muss es recht entspannt zugegangen sein, mit langen Pausen und jeder Menge Bier und Pfeffilikör in den Spät- und Nachtschichten, und wenn man unpünktlich kam, machte man das Zuspätkommen eben durch früher Gehen wieder wett. Vielleicht hat er das ja gar nicht als Kritik, sondern als Kompliment gemeint?

Das Dumme ist natürlich, dass am Ende nur dieses (obendrein wohl nicht korrekte) Zitat „Bayreuth ist pure DDR“ hängenbleiben wird. Außerhalb Bayreuths identifiziert sowieso fast  jeder die Stadt mit Wagner und den Festspielen, als existiere sie nur zwei Monate im Jahr und ausschließlich auf dem Hügel. Vielleicht sollte die Stadt das Geld, das für Beflaggung ausgegeben wird, in eine Imagekampagne investieren, die der Welt mitteilt, was Bayreuth eigentlich nicht ist: „Bayreuth ist NICHT Wagner!“, „Bayreuth ist NICHT das Festspielhaus! Zumindest nicht ausschließlich! Menno!“, „Bayreuth ist NICHT die DDR! Wir wiederholen: BAYREUTH IST NICHT DIE DDR! Und auch nicht Nordkorea!“, „Es herrscht KEIN Bananenmangel in Bayreuth!“, „Bayreuthern steht KEIN Begrüßungsgeld zu!“ oder auch:  „Bayreuth ist NICHT so doof wie Sie vielleicht denken!“ etc., um nur  mal ein paar Vorschläge für Headlines zu machen.

Zum Glück NICHT abgehängt wurde das tollste Straßenschild Bayreuths … danke :)

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(Ich bin ja einer von insgesamt nur zwei Menschen, denen das Rathaus gefällt (wenn auch aus seltsamen Gründen), aber vielleicht …)

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(… gelingt es ja der Videoinstallation von Philipp Geist, ihm einige neue Freunde zu gewinnen. Wer noch nicht da war: Hingehen, gucken, ein Bier trinken, sich freuen. Wer schon mal da war: Noochmal wiederkommen, weil sich das Werk jeden Tag ein bisschen verändert und weiterentwickelt.)

Wenn ich es nicht schaffe, spielt mir Siegfrieds Trauermarsch

Fast wäre ich doch noch um die Generalprobe herumgekommen, doch eine freundliche ältere Damen und ein sehr netter Busfahrer haben meinen (unbewusst gefassten) Plan in letzter Sekunde vereitelt. Jetzt gibt es keine Ausrede mehr. Damals schien das eine super Idee zu sein, mir mal eine Wagneraufführung (oder -probe) anzuschauen. So wie ich es mal für eine gute Idee hielt, an einem Nachmittag mit der Familie, als nebenher im Fernsehen irgendeine Doku über Fallschirmspringer lief, vor mich hinzumurmeln: „Fallschirmspringen müsste man och mal.“ Ich war immer noch begeistert, als ich am darauffolgenden Geburtstag einen Gutschein für einen Tandemsprung geschenkt bekam. Von dieser Begeisterung war wenig übrig, als ich dann in der offenen Tür des (fliegenden!) Flugzeuges saß, und mein Tandemmensch mir „Bist Du bereit?“ ins Ohr brüllte. Als ich wahrheitsgemäß „Nein!“ bzw. „Neeeeeeeeeeiiiiiiiiiiiiiinnnnnnn!“ zurückbrüllte, purzelten wir schon dem Erdboden entgegen.

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(Selbstportrait mit Götterspeise )

Von viereinhalb Stunden Nettowagner wurde mir in Bezug auf die Götterdämmerung berichtet, Meine Bedenken wegen der unbequemen Stühle wurden immerhin zerstreut: „Viel schlimmer als die Sitze, wird ganz gewiss die Hitze“, beruhigte man mich. Dazu kommt, dass die Götterdämmerung von Castorf inszeniert wird, dem Mann, der mir vor 20 Jahren mit seiner Clockwork-Orange-Inszenierung an der Volksbühne das Theater nachhaltig verleidet hat.

Na, mal sehen. So schlimm wirds schon nicht werden, nach dem Fallschirmsprung war  ich auch begeistert und wollte am liebsten gleich noch mal und außerdem bin ich in der Pause zum Picknick verabredet, da lohnt es sich doch, zu überleben.

Die freundliche ältere Dame und der nette Busfahrer werden schon gewusst haben, warum sie mir meine schöne Ausrede kaputt machen. Ich fuhr heute morgen aus Richtung St. Johannis mit dem 302er Bus, stieg am Wahnfried aus und ging guter Dinge Richtung Fußgängerzone, der Bus überholte mich und bog nach rechts in die Dingsbumsstraße ein (ich bin jetzt zu faul, nachzugucken, wie sie wirklich hieß – Dingsbums war es aber nicht), ich überquerte die  Straße und freute mich auf einen Kaffee, als wildes Hupen mich umdrehen ließ. Der Bus hatte mitten auf der Straße gehalten, der Fahrer schaute zum Seitenfenster heraus und winkte wild mit der Brieftasche, in der sich mein Personalausweis befand, ohne den ich nachher nicht reinkommen würde … Ich lief rasch hin (schnell hatte sich ein mittelgroßer Verkehrsstau gebildet. Der Fahrer gab mir die Brieftasche zurück und die Frau, die sie gefunden hatte winkte mir zu. Vielen, vielen Dank an die beiden – sie haben es ja gut gemeint ;) (Und von Wagner abgesehen, wäre ich ohne Geld und Bahncard und pipapo ziemlich aufgeschmissen gewesen).

Wer übrigens morgen eine Generalprobenkritik erwartet, wird enttäuscht werden. Ganz davon abgesehen, dass ich dort nur sitzen und staunen und nichts verstehen werde und ohnehin kein Kritiker bin, sind öffentliche Kritiken der Generalprobe ausdrücklich untersagt. Ich denke, ich werde mich auf das Drumherum konzentrieren, das liegt mir sowieso mehr.

 

Bayreuth, ich komme! (Wenn man mich lässt.)

Was für eine muntere, joviale Stimme. „Liebe Fahrgäste, es ist Kaffeezeit. Wie wäre es jetzt mit einem Heißgetränk und einem Stück Butterkuchen im Bordbistro?“ – so in etwa klingt er, nur dass er stattdessen sagt: „Liebe Fahrgäste, aufgrund einer Personenüberfahrung eines vorausfahrenden Zuges hat unser Zug zur Zeit …“ Ist die Sache an sich nicht schlimm genug? Muss man auch noch die deutsche Sprache meucheln? Personenüberfahrung, was für ein Wort! Warum nicht „Personenüberquerung“? Und müsste es nicht statt „Personenüberfahrung eines vorausfahrenden Zuges“ richtig heißen „Personenüberfahrung durch einen vorausfahrenden Zug“? Oder aber: „Personenüberfahrt eines vorausfahrenden Zuges“, wobei „Überfahrt“ vielleicht zu sehr nach Schiffspassage klingt. Vielleicht sollte man einfach sagen: „aufgrund der unbezahlten und unsachgemäßen Benutzung des vorausfahrenden ICE durch eine Person“, das würde eine besonders schlimme Sprachverhunzung (eben die „Personenüberfahrung“) vermeiden und auch nicht so schlimme Bilder im Kopf provozieren. Ist übrigens mal jemanden aufgefallen, wie erleichtert die Verspätungsdurchsagen klingen, wenn man enen Personenschaden, ein Hochwasser, eine hochkant auf den Gleisen stehende Schneeflocke oder andere höhere Gewalten verantwortlich machen kann?

Ich bin unterwegs nach Bayreuth, ein Dreitagesabstecher. Heute Abend Bardienst im Forum Phoinix, morgen Generalprobengucken im Festspielhaus, übermorgen: Bayreuth im Festspieltaumel und ich mittendrin.
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(Richtung Bayreuth heißt auch immer: Raus aus der Sonne.)

Eine Frau mit Krücke setzt sich zu mir, sie hat mitbekommen, dass ich den Schaffner nach Anschlüssen Richtung Bayreuth gefragt habe. „Ich muss auch nach Bayreuth! Was halten Sie davon, dass wir uns ab Lichtenfels ein Taxi teilen?“ Nichts halte ich davon, da sie mit Taxi teilen vermutlich auch Taxirechnung teilen meint. Sie guckt verzweifelt, sie hat eine Karte für die Tannhäuser-Generalprobe heute Abend, die um fünf losgeht. Sie fürchtet, personenüberfahrungsbedingt nicht rechtzeitig anzukommen. Ich beruhige sie. 16.29 Uhr sollen wir ankommen, bis 16.50 Uhr ist Einlass, vom Bahnhof sinds 5 Minuten auf den Hügel, das ist auch mit Krücke zu schaffen. Vorrausgesetzt die vororausfahrenden Züge unterlassen diese unseligen Personenüberfahrungen.

Ich frage, warum sie eine Krücke hat, erkläre, dass ich vor gar nicht allzulanger Zeit selber eine gehabt hätte und mein Knie immer noch nicht in Ordnung sei und dass mich interessiere, wie sie die Stunden auf den Wagnerwürdigungsstühlen des Festspielhauses durchstehen bzw. -sitzen will. Sie zuckt mit den Schultern: „Schmerztabletten. Schon vorher.“ Ich nicke, das ist auch mein Plan, und er hat sich beim Geburtstagskonzert bereits bewährt (allerdings hatte ich da nur 2 Nettostunden durchzuhalten). Aspirin oder Acesal beugen zudem der berüchtigten Wagner-Thrombose vor …

Am Tisch auf der anderen Gangseite sitzt ein freundlicher Mann, Anfang, Mitte 60 wahrscheinlich, Maler und Musiker, DDR-Bürger und ehemaliger Dissident. Wir haben uns kennengelernt, als ich ihn bat, die Musik ein bisschen leiser zu machen. Was er auch tat, wenn auch verwundert, da er, als er die Kopfhörer absetzte, keine störenden Geräusche vernehmen konnte, was entweder daran lag, dass er Jazzgetrommel nicht als störendes Geräusch identifizieren kann, oder daran, dass er seit Jahrzehnten in Bands spielt (als Maler – lange Geschichte). Er kommt schließlich mit einer Frau an seinem Tisch ins Gespräch, ich kann gar nicht anders als zuzuhören, was soll ich denn machen?! Er erzählt von der Stasi, von FDJ-Sekretären an der Uni, die ihm das Leben schwer gemacht haben, von illegalen Kunstprojekten, Protestaufrufen, Freunden, die sich als Spitzel heraustellten, von Schikanen und der erdrückenden sozialistischen Spießbürgermentalität, der Hoffnung und dem darauffolgende Entsetzen angesichts der Prager Frühlings und seines Endes. Aber wie bei praktisch allen Dissidenten und Künstlern aus der DDR schwingt auch ein Haufen Nostalgie mit. Immerhin hatte Kunst damals noch eine Bedeutung, eine Meinung erforderte Mut, man träumte davon, andere Dinge zu verwirklichen, als einfach nur sich selbst. Und dann natürlich der Zusammenhalt! „Auch wenn wir wussten, da waren Spitzel bei!“ Und wie fast alle Dissidenten und Künstler aus der DDR ist er mit dem jetzigen System unzufrieden. „Wir wollten die DDR nicht einfach aufgeben, wir wollten etwas anderes probieren, einen dritten Weg. Ein demokratischer Sozialismus mit freier Marktwirtschaft, das war mein Traum.“

Seither denke ich darüber nach, wie das aussehen sollte. Meinte er wirklich „freie Marktwirtschaft“, den Kampfbegriff der Wirtschaftsliberalen? Sind Sozialismus und freie Marktwirtschaft vereinbar? Natürlich sind sie das, davon bin ich inzwischen überzeugt. Der demokratische Sozialismus mit freier Marktwirtschaft wird endlich das Paradies auf Erden bringen. Die Menschen werden vegane Gerichte mit Fleisch essen, keusche Sexorgien feiern und humane Kriege führen. Tolerante Nazis, gottesfürchtige Atheisten, bescheidene Investmentbanker und Supermodels mit Durchschnittsfigur werden sich an den Händen halten und gemeinsam die „Hymne des Demokratischen Sozialismus mit freier Marktwirtschaft“ singen:

Dunkel war’s, der Mond schien helle
als ein Auto blitzeschnelle
langsam um die Ecke fuhr
Drinnen saßen stehend Menschen
schweigend ins Gespräch vertieft
als ein totgeschossener Hase
auf der Sandbank Schlittschuh lief.

In der Zugkneipe ist die Klimaanlage ausgefallen. Gefühlte 40 Grad oder so. Das erklärt vielleicht einiges. Als ich den Menschen an der Bar bitte, mir einen Deckel zum Kaffeebecher zu geben, sagt er bedauernd, dass sie leider nur Deckel für die großen Kaffeebecher hätten. „Hm, na dannn gießen sie doch meinen Kaffee in einen großen Becher“, mache ich einen, wie ich finde, vernünftigen Vorschlag.

„Nein, tut mir leid, ich kann ihnen keinen kleinen Kaffee in einem großen Becher rausgeben.“

Ich schaue etwas verwundert drein. „Doch, das können Sie“, sage ich schließlich aufmunternd. „Umgedreht wäre es schwierig.“

Er lacht freudlos. „Nein, das geht nicht! Die großen und die kleinen Becher sind unterschiedliche Kostenstellen, das darf ich nicht machen.“ – „Und Bahnchef Grube zählt abends nach, wieviele Becher von jeder Sorte rausgegeben worden und vergleicht das mit der Kaffeekasse?“ – „Haha, Sie haben gut reden, aber für mich geht’s um meinen Job!“ – „Sie werden gefeuert, wenn Sie mir einen großen Kaffeebecher geben?“ – „Die wollen Personalkosten sparen, denen ist jeder Anlass recht!“

Nein, in der besten aller denkbaren Welten leben wir wohl nicht, wenn Leute unter Androhung des Jobverlustes dazu gezwungen werden, zu behaupten, man könne ein Getränk nicht in ein größeres Gefäß umfüllen.

Noch eine Stunde bis Bayreuth. Dann gibt’s endlich Kraftraumkaffee und Heimathafenbier, bevor ich auf die andere Seite des Barbetriebs wechsle und verwirrten Menschen erkläre, dass ich aufgrund der Personenüberforderung eines ungeübten Barmannes leider keine großen Biere in Sektgläsern ausschenken könne.

 

 

Ich bin ein Stadtschreiber, holt mich hier raus!

Zurück in Berlin. Nur fünf Monate war ich weg und trotzdem hat bloß eine der beiden Baustellen in meiner Straße überlebt. Dafür wurde aber auch eine neue eröffnet, an die ich mich aber erst einmal gewöhnen muss. Wie an die ganze Stadt.

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(Pankow vor dem Regen.)

Hier draußen in Pankow geht es ja noch – die Häuser sind halt sehr groß und die Straßen so breit, das man zum Überqueren so lange braucht wie für einen Bummel über das Bayreuther Stadtparkett, aber alles in allem komme ich klar. Schlimmer war schon ein Bummel durch den Prenzlauer Berg nach Mitte. Diese vielen Menschen, die offenbar alle als Stadtsschreiber tätig sind, da sie entweder planlos durch die Gegend ziehen oder in Cafés rumsitzen. Die vielen Touristen. Die vielen Modepüppchen (die zum Teil der Fashion Week geschuldet sein mögen). Die vielen Spätverkäufe. Nach dem ich solange auf sie verzichten musste, fällt mir erst wirklich auf, wie viele es sind! Wenigstens ein Fünftel aller Geschäfte, wenn nicht sogar 20%, während es in Bayreuth nicht einen einzigen gibt. Vielleicht wäre das ein Geschäftsmodell? Der erste Bayreuther Späti, man würde sicher sehr schnell sehr reich werden (aber wer will das schon?).

Recht angenehm ist die Anonymität der Großstadt. Ich war ja doch so eine Art Bayreuther F-Prominenz. Wenn es ein Oberfränkisches Dschungelcamp gegeben hätte, wäre ich bestimmt eingeladen worden. Letzten Sonnabend gab es ein hübsches Erlebnis: Ich saß mit meinem ersten Kaffee und meiner Morgenzigarette vor dem Kraftraum, als eine Stadtführung vorbeispazierte und ich spontan in das Besichtigungsprogramm aufgenommen wurde (auch wenn ich wegen der etwas langen Nacht zuvor sicher keine Sehenswürdigkeit war). Zwanzig ältere Damen- und Herrschaften in beiger Funktionskleidung und mit bunten Regenschirmen lauschten den Ausführungen über den Stadtschreiber und ich grimassierte vor mich hin, probierte diverse Gesichtsausdrücke durch, weil ich mir noch keinen passenden für derartige Gelegenheiten zurechtgelegt hatte.

(Ich muss dazu erwähnen, dass die Stadtführererin mit mir bekannt ist und sie mich erst privat grüßte, eine gute Heimreise wünschte und bedauerte, dass sie nicht zu Lesung ins RW21 kommen könnte, bevor sie sich an die Touristen wandte: „Das muss ich Ihnen kurz erklären …“ ;)

Um so etwas muss ich mir erst einmal keine Gedanken mehr machen. Hier kennt mich ja nicht einmal der Oberbürgermeister!

Dies nur als erster kurzer Gruß aus der Ferne, ich mach mich dann mal wieder ans an-Berlin-Gewöhnen!

Der Stadtschreiber a.D.

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Bye bye Bayreuth …

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Und ein kurzer Gruß von unterwegs. Ich meld mich! Es gibt mir übrigens sehr zu denken, dass es immer düsterer wird, je näher ich Berlin komme. Das gute Wetter scheint von meinen Umzugsplänen gehört zu haben und versucht mich zu meiden und verhöhnen. Das  heißt für Sie, liebe Leserinnen und Leser: In Bayreuth bleibt es schön, bis ich Ende Juli zurückkomme …

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(Der Himmel über Sachsen …)

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(Der Himmel über Brandenburg)

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(Der Himmel über dem Berliner Hauptbahnhof (Tief))